Kitchenstories: Bunte Rezepte in einer bunten Gesellschaft

‚Zwischen den Jahren‘

Eine herrliche Erfindung unserer Gesellschaft. Für die meisten eine Zeit des Innehaltens, Ausruhens, Gemeinsam-Zeit-Verbringens. Und auch des Nachdenkens: Was wird das neue Jahr wohl bringen? Was wird es Neues geben und was bleibt? Was wünscht ihr euch? Was liegt euch besonders am Herzen?

Jeder hat da sicher seine ganz persönlichen kleinen Ziele und Träume

Heute möchte ich aber mal ein paar Gedanken mit euch teilen, die uns alle betreffen: Geht es euch auch so, dass die politische Entwicklung in diesem Jahr rückblickend bei euch mehr als einen schalen Nachgeschmack hinterlässt? Ich bin eigentlich mein ganzes Leben nicht besonders politisch aktiv gewesen, zumal ich bis letztes Jahr noch nicht einmal die deutsche Staatsbürgerschaft hatte und auch nicht über die kommunale Ebene hinaus wählen konnte. Aber die aktuellen Entwicklungen machen mir so viel Sorge, dass ich das Gefühl habe: Da muss ich doch etwas tun!

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Daher habe ich vor einigen Wochen in unsere Blogger-Community hier in Thüringen – www.thueringen-bloggt.de – hineingefragt: Habt ihr auch dieses Bauchgefühl?

Natürlich hat Politik thematisch wenig mit den meisten unserer Themenschwerpunkte zu tun – aber ich hatte das Gefühl, dass es uns dennoch alle etwas angeht. Wir erreichen mit unseren Blogs und Social Media Kanälen so viele Menschen, wie wunderbar wäre es da, wenn wir auch zu diesem Thema ein paar Gedanken mit euch teilen und mit euch in den Dialog treten könnten.

„In welcher Gesellschaft möchten wir leben?“

Das Feedback der anderen Blogger war einfach grandios: Innerhalb kürzester Zeit war die Aktion #bloggersindbunt ins Leben gerufen. Bis 15. Januar 2020 teilen wir Blogger unsere ganz persönlichen Gedanken zur Frage „In welcher Gesellschaft möchten wir leben?“ in einer Blogparade mit euch. Denn jeder Blog, egal ob nun Food-, Mode-, Lifestyle-, DIY-, Politik-, Reise- oder oder oder Blog, teilt schon immer mit jedem Beitrag kleine Puzzlestücke dessen, wie wir uns unsere Welt ausmalen.

Und jetzt ergreifen wir die Gelegenheit, noch etwas tiefer gemeinsam mit euch in den Farbtopf einzutauchen.

Was diesen schalen Nachgeschmack, diesen dicken Kloß im Hals bei mir hinterlassen hat, dass ich mir plötzlich so viele Gedanken über Politik mache?

Der starke Rechtsruck in unserer Gesellschaft. Als das Thüringer Wahlergebnis feststand, dass 23 % der Menschen in dem Bundesland in dem ich lebe, eine Partei gewählt haben, die unter Führung eines Menschen steht, der für sein Gedankengut und seine Äußerungen gerichtlich bestätigt Faschist genannt werden darf: Für mich unfassbar. Für die Menschen in meiner direkten Umgebung auch: „Mein Herz weint“ war einer der für mich treffendsten Kommentare von Freunden in meinem Social Media Feed. Auf ihn folgten viele weitere Statements dieser Art.

Trotzdem diese 23 %. Woher kommt diese Zahl? Welche Menschen mit welchen Beweggründen stehen dahinter? Das wollte ich verstehen können – und habe mir daher das komplette Wahlprogramm der Thüringer AfD durchgelesen. Und dann, als die 96 Seiten geschafft waren, auch das etwas ältere Wahlprogramm auf Bundesebene.

Was soll ich sagen – würde man das Wahlprogramm nur grob überfliegen, käme es überraschend harmlos daher. Ich konnte auch viele Punkte entdecken, die auf den ersten Blick positiv erscheinen. Aber eben nur auf den ersten – hierzu an anderer Stelle gerne mal mehr. Andere Punkte widerum wirken harmlos, werden fast beiläufig in Nebensätzen erwähnt. Haben es aber bei genauerer Betrachtung ganz schön in sich.

Ein Wort des Thüringer Wahlprogramms ist bei mir besonders haften geblieben:

„Ethnopluralismus“. Beiläufig, in einem Nebensatz. Fast so, als ob es nur für diejenigen gedacht sein könnte, die etwas damit anzufangen wissen. Sicher nicht gedacht für Menschen wie mich. Was harmlos, fast positiv klingt, ist ein Begriff, der vor allem von den neuen Rechten, auch bekannt als die Identitären, gebraucht wird. Gerne wird dieser Begriff in diesen Kreisen beschönigend verwendet: Von Erhalt der Vielfalt der Kulturen ist da die Rede, davon, dass doch auch Ausländer zum Freundeskreis gehören, dass es an den Haaren herbeigezogen sei, dass man etwas gegen Ausländer hätte. Aber Ausländer im eigenen Land? Bitte nur als Touristen, als vorübergehende Besucher. Eine Durchmischung der Völker? Mitglieder der eigenen Gesellschaft mit Migrationshintergrund? Unerwünscht.

Diesen Satz zu schreiben tut weh:

Für mich als Britisch-Ungarin mit deutschem Ehemann ein Stich ins Herz. Denn gemäß Ethnopluralismus dürfte es mich gar nicht geben. Diesen Satz zu schreiben tut weh. Aber es muss sein, um die Tragweite dieses schrecklichen Begriffes bewusst zu machen. Dabei war Migration schon immer Teil der meisten Kulturen und ist Grundlage ihrer positiven Entwicklung und hat alle Menschen sowohl biologisch als auch kulturgeschichtlich zu denen gemacht, die wir heute sind. Würden wir einen DNA-Test machen, würden die meisten von uns entdecken, dass sie unterschiedlichste Migrationshintergründe haben, sei es schottisch, italienisch, griechisch, türkisch, russisch, französisch oder oder oder. Wozu also ein Ansatz, der behauptet, Migration sei grundsätzlich ein Feindbild? Es ist sicher die Angst vor Fremdem, die einen Nährboden für Ideologien wie diese bildet.

Es mag vielleicht überraschend für euch klingen, aber in einem Punkt stimme ich zu:

Auch mir macht Fremdes häufig Angst. Auch ich sehe die Politik in der Pflicht, unbegrenzten Zuzug zu verhindern. Aber was ist mit denjenigen, die sich völlig rechtmäßig in Deutschland aufhalten? Die rechtmäßig Teil der deutschen Gesellschaft werden wollen? Für mich ist nicht Ausgrenzung dieser Migranten die Lösung, sondern ihre Integration.

Integration bedeutet aber auch in meinen Augen nicht multikulti im Sinne von nebeneinander herlebenden Parallelgesellschaften. Denn diese schüren nur Angst und arbeiten – so paradox es klingen mag – mit rechten Strömungen Hand in Hand. Integration bedeutet, die Normen und Werte des Landes, in dem man beschlossen hat zu leben, für sich anzunehmen. Der Wille zur Integration muss nicht nur klar erkennbar sein. Er muss auch klar erkennbar umgesetzt werden. Eine Willkommenskultur kann nur für Migranten funktionieren, die ein klares Ja! zur Integration zeigen.

Integration bedeutet dennoch mitnichten Aufgabe der eigenen Wurzeln. Ich bin und war schon immer stolz auf meine britischen und ungarischen Wurzeln. Und gerade weil ich so gut in unsere Gesellschaft integriert bin, habe ich die Möglichkeit, hier und da Einblicke in die britische und ungarische Kultur zu geben und stoße damit auf offene, interessierte Ohren.

Faszinierend ist der Umgang mit Migration im Lebensbereich „Essen“

Essen ist hinsichtlich funktionierender Integration und Willkommenskultur übrigens ein ganz wesentlicher Bereich, um zum Grundthema meines iss dich glücklich Blogs zurück zu kehren.

Es ist faszinierend: In fast keinem anderen Lebensbereich sind Menschen so offen für neue Eindrücke, wie im kulinarischen Umfeld. Wir gehen alle gerne zum Italiener, zum Griechen, zum kurdischen Döner, zum Chinesen, Türken, Sudanesen, Vietnamesen, Japaner oder Koreaner um die Ecke. In diesem Umfeld sind wir offen für neue Gerüche, Geschmäcker und Rezepte – denn wir bewegen uns innerhalb eines Restaurants in einem Teilstück gelebter integrierter Gesellschaft. Wir können uns darauf verlassen, dass hier die in Deutschland üblichen Normen, Regeln und Werte eingehalten werden, wir fühlen uns sicher und gut aufgehoben. Und können uns deshalb offen auf fremde Geschmackserlebnisse einlassen. So funktioniert Integration im kulinarischen Kleinen. Und so funktioniert Integration auch im großen Ganzen.

Ja, natürlich kann ein Foodblog auch nur ein kleines Puzzelstück zur Frage „In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben“ bieten. Natürlich steht hinsichtlich funktionierender Migrations- und Integrationspolitik vor allem auch die Politik selbst in der Pflicht – und auch in anderen wichtigen Lebensbereichen müssen Parteien dort Präsenz zeigen, wo ihre Präsenz aktuell vermisst wird: Sei es in ländlichen Regionen, im Ehrenamt, in der Pflege, im Handwerk – hinsichtlich Themen wie Versorgung, Anbindung, Ausbildung, Wertschätzung und Unterstützung. Da gibt es sehr viel zu tun, um das Feld nicht rechten Strömungen zu überlassen, die dann mit ihrem mehr als fragwürdigen Wahlprogramm so überraschend viele Menschen erreichen, einfach nur, weil sie das Gefühl vermitteln, da zu sein.

Für mich zählt aber eben nicht nur, was andere tun können. Für mich zählt in erster Linie immer auch die Frage: Was kann ich tun? Und mir bleiben: Die Worte. Meine Geschichten. Und Rezepte. Hiermit kann ich Menschen erreichen und meinen eigenen ganz kleinen Beitrag dazu leisten, dass extrem rechte Strömungen nicht den Nährboden finden, um ihre Ideologien in unsere Herzen zu bringen.

Portraits gelebter Integration

Ich werde euch daher in den nächsten Wochen ganz wundervolle Menschen vorstellen, die Integration aus vollem Herzen und mit tiefster Überzeugung leben: Ich zeige euch ihre ganz persönliche Migrationsgeschichte, Einblicke in ihr Leben innerhalb unserer Gesellschaft – und einen ganz besonderen kleinen Einblick in die Kultur des Landes aus dem sie migriert sind: Ihr persönliches Lieblingsrezept.

Es sind die Menschen, die vielen gar nicht als allererstes in den Sinn kommen, wenn von Migration gesprochen wird. Denn sie sind so gut integriert, dass wir sie nicht als Fremde wahrnehmen.

Sind sie auch nicht. Sie sind wie du und ich Teil unserer wunderbaren bunten Gesellschaft.

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